Warum soll ich mir die Zähne putzen, wenn ich sowieso ins Gras beiße? „Diese Frage hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Und ich bin mir sicher, diese Frage hat die Kraft, auch dein Leben zu verändern“, behauptet Karsten Stanberger. Der Speaker trat bei der Rednernacht in der Volksbühne am Rudolfplatz in Köln auf. Seine Herzensangelegenheit: Dich von einem „So ist es halt” zu einem ganz persönlichen „So soll es für dich sein” zu bewegen.
„Das Jahr 2014. Ich bin als Trainer für Persönlichkeitsentwicklung in der Schweiz. Am Abend sitze ich mit dem Teilnehmern zusammen und wir verfolgen die WM”, erzählt er. „Es spielt Italien-England. Obwohl ich mit den Menschen dort sitze, bin ich ganz bei mir. In meinem Kopf gehe ich das Gespräch mit einem Kollegen durch. Der erzählte mir am Vorabend, dass ein Nachbarsjunge an Leukämie erkrankt sei. Der Kleine weigerte sich die Zähne zu putzen und rief immer wieder: Wieso soll ich mir die Zähne putzen, wenn ich eh ins Gras beiße?“
Die Kraft dieser Frage wirkte in Karsten Stanberger und seiner Frau Susen lange nach. Das war die Initialzündung für ihr Buch „Die Grasbeißerbande”. „Wir wollten wissen, ob es noch mehr solcher kraftvollen Fragen von kranken Kindern gibt. Wir haben fast drei Jahre recherchiert, mit Kindern, Eltern und Eltern-Waisen gesprochen. Und ich werde nie den Besuch in einem Kinderhospiz vergessen. Dort wurde uns auch das Abschiedszimmer gezeigt. Mit einem blauen Bett. Wunderschön eingerichtet. Meine Frau und ich haben den Raum als sehr harmonisch wahrgenommen. Es war so, als würde die Grenze von Tod und dem Leben dort einfach verschwimmen. Trotzdem, denkt es in mir, dürfte es dieses Zimmer nicht geben.“ Karsten wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.
Am Abend erzählen er und seine Frau ihren Kindern von dem Ausflug. Karstens damals 5-jähriger Sohn sagt: „Papa, ich will auch so ein Bett. Nicht zum Sterben. Aber du sagst doch selber immer ,Blau und weiß ein Leben lang’! Papa, das ist Schalke…!“ Karsten habe an diesem Abend zwei Dinge beschlossen:
Trainerbank und Garderobe sind mir wirklich super gelungen. Aber nicht, meine Zeit nur mit den Dingen zu verbringen, die sie wirklich wertvoll machen.“
Es gibt so viele Lebensbereiche. Ob Karriere, Freunde – all die Dinge, die Zeit brauchen. „Für mich ist meine Familie mit das Wichtigste auf der Welt. Natürlich würde ich gern mehr Zeit mit ihr verbringen. Dass das nicht immer ohne Abstriche klappt, erzeugt Druck bei mir. Hinzu kommt das Gefühl mithalten zu wollen. Vergleichbar zu sein. Plötzlich wächst in mir mein Anspruch. Nicht nur an mich selbst, sondern auch an mein Leben. Damit bin ich wahrscheinlich nicht der einzige”, erzählt der Speaker offen.
„Wir kommen auf diese Welt. Gehen in den Kindergarten, in die Schule, erlernen einen Beruf und gehen arbeiten. All die Dinge, für die kein Platz ist, die verschieben wir auf später. Nur was, wenn es kein Später gibt?”, fragt Karsten. Laut einer Studie stirbt in Deutschland aktuell jeder Sechste vor dem Erreichen seines 65. Lebensjahres. „Die häufigste Aufforderung von Kindern an uns Erwachsene lautet: Hey, spiel mit mir! Und wie oft erwische ich mich als Vater von drei Kindern dabei zu sagen: gleich. Und daraus wird dann oft später. Es gibt eine Studie, aus der geht hervor, dass wir – über unser ganzes Leben betrachtet – über 12 Jahre lang an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden lang Fernsehen gucken. Neun Monate spielen wir mit unseren Kindern. Vielleicht werden wir das am Ende unseres Lebens bereuen. Wir wissen das jetzt schon. Ändern tun wir trotzdem nichts.“
Aber es gibt einen Weg, wie du das ändern kannst. „Wir haben – mit etwas Abstand – mit Eltern gesprochen, die ihr Kind verloren haben. Sie vertrauten uns an: Der Tod des Kindes war ein Geschenk an unser Leben! Diese Aussage musste ich erst einmal verstehen. Ein Vater erklärte mir: Wir mussten erleben, wie unser erstes Kind viel zu früh verstarb. Und als das zweite Kind zu Welt kommt, wird festgestellt, dass auch dieses Baby an einer seltenen Erbkrankheit leidet. Das Paar adoptiert ein drittes Kind. Wie sie später erfahren, ist es ein Autist. Der Vater erzählte mir: Als unser Sohn damals starb, hätten wir alles darum gegeben, mit den Problemen oder dem Leben anderer tauschen zu können. Heute sage ich: Das will ich alles gar nicht haben.“
Erst der Mangel an Zeit lässt den Blick messerscharf auf das werfen, was am Ende wirklich zählt. Dafür musst du kein Kind verlieren. Sondern verändere die Einstellung zu deinem eigenen Leben und deiner eigenen Endlichkeit. Das ist das, was den Unterschied macht. Es gibt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen:
Wieso soll ich mir die Zähne putzen, wenn ich sowieso ins Gras beiße? „Oder ein 5-jähriges Mädchen, das meinte: Wenn ich König von Deutschland wäre, dann würde ich dafür sorgen, dass keine Kinder mehr sterben. Diese Fragen dieser Kinder zu ihrem eigenen Leben und Sterben, sind ein Vermächtnis. Sie haben die Kraft, dass jeder für sich auf die existenzielle Frage – Macht das hier alles überhaupt einen Sinn? – Klarheit gewinnt”, weiß Karsten aus eigener Erfahrung. „In uns wächst die Kraft und der Mut, unser Leben danach auszurichten, uns selbst zu gestalten.“
Natürlich bewegen wir uns gerade in einem Spannungsfeld. Zwischen „So ist es halt” und „So soll es sein”. Es gibt Phasen im Leben, wo es völlig legitim ist, zu sagen: So ist es halt – wenn du weißt, wozu. Einstellung, die kannst du ändern. Das braucht Wiederholung und Zeit sowie die Erinnerung im Augenblick. Aber unser Leben ist nicht wiederholbar. Karsten Stanberger fragt: „Warum gibt es nicht etwas, das uns nicht permanent daran erinnert?“
„Wir haben eine französische Bulldogge. Ein ziemlich bequemer und fauler Hund liegt in seinem Körbchen. Es gibt eine Ausnahme. Wenn es klingelt! Dann rennt der los zur Tür und bellt. Warum macht er das? Er kann nicht anders. Reiz und Reaktion. Ich glaube, bei uns Menschen ist es ähnlich. Nur haben wir zwischen Reiz und einer Reaktion von uns die Chance, eine kleine Dehnungsfuge der Zeit aufzumachen. Indem wir einen Pause-Knopf drücken und uns fragen: Will ich das überhaupt? Und dann werden wir vom Beteiligten des Augenblicks zum Gestalter.“
In diesem Augenblick erzählt Karsten Stanberger von dem Kennenlernen einer Familie. „Deren Sohn kam mittags immer mit Radau nach Hause, ließ die Tür auffliegen, schmiss den Ranzen in die Ecke, pfefferte die Schuhe hinterher. Und es folgten täglich die gleichen Diskussionen”, erinnert er sich an das Gespräch. Der Sohn stirbt mit neun Jahren. Seitdem schmeißen seine Eltern Schultasche und Schuhe in die Ecke. Nur, um sich an das Geräusch zu erinnern. „Auf der Jagd nach dem ganz großen Augenblick übersehen wir die Chance, das Glück in jedem fast alltäglichen Moment. Am Ende sind es diese Momente, die wir am meisten vermissen. Ich wünsche dir Kraft und Mut, deinen Zeitwert zu entdecken. Bleib wachsam. Halte die Augen auf. Für jeden einzelnen Moment!“