Beim Yoga handelt es sich um eine Körperlehre aus dem alten Indien, die dort seit vielen Jahrtausenden praktiziert wird. Mittlerweile haben sich auch in unseren westlichen Breitengraden zahlreiche Yogaformen etabliert. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Formen teilweise stark voneinander, was einen Yoga-Neuling vor große Herausforderungen stellen kann. Neben dem allseits bekannten Hatha und Yin Yoga erfreut sich auch das Kundalini Yoga wachsender Beliebtheit.
Dieser körperlich und geistig besonders fordernden Yoga-Art liegt eine komplexe Philosophie zugrunde. Das Ziel der Kundalini besteht darin, die eigene schöpferische Kraft zu entfalten und durch die Vereinigung mit universellen Kräften inneren Frieden zu erfahren.
Aber wie funktioniert das genau? Das wollen wir nachfolgend ergründen.
Kundalini ist eine sehr spirituelle Yogaform, die auf der sogenannten Shiva-Shakti-Philosophie basiert. Hier liegen übrigens auch die Wurzeln des Tantra, einer hinduistischen und buddhistischen Glaubensströmung. Demzufolge besteht das Universum aus zwei energetischen Polen in Form der beiden Götter Shiva und Shakti. Ersterer verkörpert das reine Bewusstsein, Letzterer die schöpferische Kraft.
Laut Mythologie wurden die beiden Götter, die einmal eins waren, durch eine Schwingung voneinander getrennt. Wer Kundalini Yoga praktiziert, möchte sie wieder miteinander vereinen. Dies gelingt, indem man die eigene schöpferische Kraft – die Kundalini – mithilfe verschiedener Praktiken erweckt. In der Yogalehre geht man davon aus, dass diese Kräfte in jedem Menschen schlummern und gezielt aktiviert werden müssen.
In der symbolischen Darstellung ist die Kundalini eine zusammengerollte Schlange, die sich am unteren Ende der menschlichen Wirbelsäule befindet. Steigt die erweckte Kundalini-Energie die Wirbelsäule hinauf, kann sich die irdische Seele laut Shiva-Shakti-Philosophie mit der kosmischen Seele vereinen. Auf diese Weise können Menschen von der Urenergie profitieren und somit ihr volles Leistungspotenzial entfalten.
Die Erweckung von Energie spielt bei der Kundalini-Lehre eine zentrale Rolle. Man könnte den Prozess auch als eine Art Transformation bezeichnen: von schlafend zu wach, von blind zu sehend, vom ahnungslosen Kind zum Erleuchteten. Der erste Schritt besteht darin, dass du dich mit dir selbst auseinandersetzt:
Umso stärker die Kundalini-Kraft in dir erwacht, desto weniger wirst du dich mit einfachen Antworten zufriedengeben. Du kommst immer mehr ins Handeln und beginnst, gezielt nach deinen spirituellen Kräften zu suchen. Die Energie wandelt durch die sieben Chakren (Energiezentren). Ist das höchste Chakra erreicht, spricht man von Erleuchtung.
Nicht selten wird Kundalini als die schöpferische Superkraft zahlreicher historisch bedeutsamer Persönlichkeiten und Genies beschrieben. In persönlichen Aufzeichnungen und Notizbüchern finden sich häufig Hinweise auf Energieerfahrungen entsprechend der Kundalini-Lehre. Häufig ist von einem Brennen oder Klopfen in der unteren Wirbelsäule, wo die Schlange sitzen soll, die Rede.
Albert Einstein äußerte beispielsweise, dass Gotteserfahrung ihn auf seinem persönlichen Weg unterstützt habe.
Wie bereits erwähnt, gibt es sieben Chakren. Diese erstrecken sich entlang der Wirbelsäule vom unteren Rücken bis zum Kopf. Ängste oder andere negative Gefühle können die Chakren blockieren, sodass der Mensch seine ureigene Energie nicht mehr nutzen kann.
Bei der Kundalini kommt dem sogenannten Wurzel-Chakra, das sich am unteren Ende der Wirbelsäule befindet, eine besondere Bedeutung zu. In diesem Chakra sitzt nicht nur die schlafende Schlange, die Quelle der Urkraft, sondern dort sind auch unsere verdrängten Emotionen und Traumata verankert. Dies erklärt, warum der Aufwachprozess unter Umständen seelisch schmerzhaft sein kann.
Heiße den Schmerz willkommen: Er bedeutet, dass sich deine alten Blockaden lösen und du nun die Chance zu innerem Wachstum erhältst.
Deine Kundalini kann entweder durch die gezielte Ausübung spiritueller Praxis sowie auch spontan erwachen, z. B. durch ein lebensveränderndes Trauma wie eine Nahtoderfahrung. Da die Energiefreisetzung überaus gewaltig sein kann, ist die sanfte Erweckung der Schlange jedoch vorzuziehen. So kannst du dich Schritt für Schritt an die Veränderungen in Körper und Geist gewöhnen.
Doch auch bei einer schrittweisen Energiefreisetzung kann es vorübergehend zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen. Dies geschieht, wenn die Energie nach oben strömen möchte, die Energiekanäle (Chakren) aber noch stellenweise blockiert sind. Dies äußert sich beispielsweise durch Hitzewallungen oder Kopfschmerzen. In der Literatur ist vereinzelt sogar von psychischen Krisen und schizophrenen Symptomen die Rede.
Aber auch eine kontrollierte Kundalini-Erfahrung geht nicht unbemerkt vonstatten. Folgende Empfindungen können darauf hindeuten, dass du dich im Erwachprozess befindest:
Ob spontane Erleuchtung oder langsames Erwachen – die Kraft der Kundalini kann einschüchternd sein. Kein Wunder, schließlich handelt es sich um die kosmische Urkraft. Diese wohnt in jedem Menschen, aber nicht jeder findet Zugang zu ihr. Lass dich also nicht verunsichern, wenn du beschlossen hast, dich auf eine spirituelle Reise zu deinen persönlichen Kräften zu begeben. Vertraue dem Prozess des Wandels.
Es wird möglicherweise Momente geben, in denen du an deinem Weg zweifelst oder plötzlich alles als Humbug empfindest. Vielleicht gibt es in deinem Umfeld auch Skeptiker, die mit Spiritualität nichts anzufangen wissen. Wichtig ist, dass du bei dir bleibst. Wenn Kundalini dir guttut, solltest du es ungeachtet der Meinung anderer weiterhin praktizieren.
Treten eine oder mehrere der oben genannten körperlichen oder seelischen Begleiterscheinungen auf, kann es hilfreich sein, deinen Fokus auf kühle und erdende Übungen zu verlagern. Achte außerdem auf eine gesunde Ernährung. Kundalini verstärkt dein gesamtes Empfinden – auch die Ängste. Von daher sind eine positive Grundeinstellung sowie innere Überzeugung umso wichtiger.
Nun hast du bereits einiges über die Kundalini Lehre erfahren. Jetzt fragst du dich sicherlich, wie die spirituellen Übungen konkret aussehen können. Kundalini Yoga besteht aus einer Kombination von Atemübungen, Bewegungsabläufen und Meditationen. Auch Gesang und Visualisierungen spielen eine Rolle.
Die Atemübungen (Pranayama) bilden den Anfang einer jeden Kundalini Einheit. Meist wird mit dem sogenannten Feueratem (Kapalabhati) begonnen, welcher dir möglicherweise bereits aus anderen Yogaformen ein Begriff ist. Das Ziel des Feueratems besteht darin, die Freisetzung der Kundalini Energie zu fördern und deine Gedanken aus der Gegenwart zu lösen. Dein Geist wird frei für neue Impulse.
Der Feueratem trägt seinen Namen, weil dir bei dieser Atemtechnik in der Regel sehr schnell warm wird: Du atmest heftig durch die Nase und ziehst dabei deinen Bauchnabel bewusst in Richtung Wirbelsäule. Die Einatmung erfolgt kurz und reflexartig.
Die einzelnen Körperübungen (Asanas) erfordern Ausdauer: Eine einzelne Übung kann bis zu 15 Minuten in Anspruch nehmen. Es ist nicht schlimm, wenn dir dies als Anfänger nicht gleich gelingt. Versuche zunächst, die Asanas mindestens drei Minuten lang zu halten. Steigere dich von Einheit zu Einheit. Folgende Übungen sind zum Einstieg besonders gut geeignet:
Begebe dich in Rückenlage und platziere deine Arme neben deinem Körper. Mit der Einatmung ziehst du dein linkes Knie in Richtung Brust. Strecke zeitgleich deinen rechten Arm über dem Kopf aus. Atme aus und führe die Gliedmaßen zurück in die Startposition. Mit der nächsten Einatmung wechselst du die Seite: rechtes Knie zur Brust, linker Arm über den Kopf.
Achte auf einen regelmäßigen Atemfluss. Der Seitenwechsel sollte stets im Einklang mit deinem Atem erfolgen. Führe die Übung mindestens für drei Minuten durch.
Begebe dich in Bauchlage, winkle deine Beine an und umfasse mit den Händen deine Fußknöchel. Mit der Einatmung löst du deinen Brustkorb und die Oberschenkel vom Boden. Versuche, für mindestens zwei Minuten in dieser Position zu bleiben.
Ein beliebtes Kundalini-Mantra ist „Satnam“. Die Wortbedeutung lautet wie folgt:
In der Sprache der Hindus wird Satnam mit den „sieben Namen“ übersetzt, was als Anspielung auf die sieben Chakren zu verstehen ist.
Um die Mantra-Meditation durchzuführen, setzt du dich in den Schneidersitz. Führe deine Handflächen vor der Brust zusammen. Diese Position wird im Yoga als Herzchakra bezeichnet. Nun summe im Fluss deines Atems die beiden Silben „sat“ und „nam“. Die erste Silbe sollte hierbei deutlich länger sein als die zweite.
Versuche, diesen Rhythmus für mindestens fünf Minuten beizubehalten. Spüre die sanften und tiefen Schwingungen deines Kehlkopfes. Lasse deine Augen geschlossen. Wenn du wieder aus der Meditation erwachst, solltest du dich entspannt und geerdet fühlen. Zudem kannst du dich nun besser auf die Herausforderungen des (restlichen) Tages konzentrieren.
Kundalini Yoga hat nur im entfernten Sinne etwas mit Sport und Fitness zu tun. Vielmehr geht es um das Praktizieren einer Lebensphilosophie. Hierbei kommt es vor allem auf die Einhaltung der Yamas (Umgang mit der Umwelt) und Niyamas (Umgang mit dir selbst) an. Auch Karma Yoga (selbstloser Dienst am Nächsten) sowie der Glaube an eine spirituelle Kraft sind für wahre Yogis essenziell.
Jemand, der Kundalini praktiziert, glaubt fest daran, dass in ihm eine gewaltige Kraft und Stärke wohnt, die es lediglich zu erwecken gilt. Allein dieser Glaube kann dazu beitragen, gefestigter im Leben zu stehen und erfolgreicher zu sein. Die geistige Verbindung mit einer spirituellen Kraft wird zudem häufig als Erweiterung des begrenzten menschlichen Bewusstseins beschrieben.
Es gibt unterschiedlich strenge Auslegungen des Kundalini-Lebensstils. Manch ein Yogi verzichtet beispielsweise auf Alkohol, Genussmittel und Fleisch, um die göttliche Verbindung nicht zu beeinträchtigen. Dies ist natürlich eine individuelle Entscheidung, die jeder für sich selbst treffen sollte.
Außer Frage steht jedoch, dass ein gesunder und aktiver Lebensstil auch das seelische Gleichgewicht fördert.
Kundalini Yoga basiert mehr auf Spiritualität als auf Wissenschaft. Dennoch lassen sich die einzelnen Aspekte der Philosophie auch auf wissenschaftliche Weise beleuchten. So gilt die gesundheitsfördernde Wirkung von Meditation sowie die positive psycho-physiologische Reaktion von Yoga (Körper- und Atemübungen) als erwiesen.
So ließen sich bei Probanden, die regelmäßig Kundalini Yoga praktizierten, folgende körperliche Reaktionen messen:
Um die genannten positiven Effekte zu erlangen, kommt es jedoch sehr auf die innere Einstellung an. Wenn du dich nicht auf Kundalini Yoga einlassen kannst, wirst du auch nicht von den gesundheitsfördernden Auswirkungen profitieren können. Selbiges gilt natürlich ebenso für jeden anderen Yoga-Stil.
Grundsätzlich eignet sich Kundalini für jeden, der ein wenig mehr Ruhe und Beständigkeit in sein Leben und in seine Gedankenwelt bringen möchte. Ob du ein Yoga-Anfänger bist oder bereits Erfahrungen gesammelt hast, das ist erst einmal zweitrangig. Am wichtigsten ist, dass du bereit bist, dich unvoreingenommen auf eine neuartige spirituelle Erfahrung einzulassen.
Zu beachten ist jedoch, dass die Asanas teilweise sehr anstrengend sind. Hüpfen, Wippen sowie kreisende Bewegungen gehören zur Kundalini dazu. Auch die Atemübungen sind nicht durchweg entspannend, sondern können deine Kräfte gewaltig fordern. Ob Kundalini Yoga noch im höheren Lebensalter praktiziert werden kann, hängt von der persönlichen Fitness ab.
Kundalini Yoga ist bestens geeignet, wenn du dein inneres Gleichgewicht wiederfinden und mehr Vertrauen in deine eigenen Kräfte entwickeln möchtest. Da es sich um einen sehr komplexen Yoga-Stil und vor allem um eine spirituelle Reise handelt, ist jedoch Geduld gefragt. Gib nicht auf, wenn die erhoffte innere Ruhe und Klarheit nicht innerhalb weniger Wochen eintreten. Es handelt sich schließlich um einen inneren Wachstumsprozess.