In der Entwicklungspsychologie kommt der kognitiven Entwicklung eine besondere Bedeutung zu. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um das Erlangen von geistiger Reife, die Erwachsene von Kindern unterscheidet. Der Prozess erstreckt sich über mehrere Jahre und ist auch im frühen Erwachsenenalter nicht zwangsläufig abgeschlossen.
Der Schweizer Psychologe Jean Piaget sowie der sowjetische Psychologe Lew Semjonowitsch Wygotski haben die gegenwärtige Forschung auf diesem Fachgebiet entscheidend geprägt. Ihre Theorien werden bis heute angewandt. Nachfolgend erfährst du, in welchen Schritten die kognitive Entwicklung verläuft und wie du dein Kind gezielt fördern kannst.
Als kognitive Entwicklung bezeichnet man eine Erweiterung des Wissens und der Wahrnehmung sowie die Veränderung der dahin führenden Erkenntnisprozesse. Es handelt sich um einen wichtigen Aspekt der allgemeinen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen. Manchmal ist auch von geistiger bzw. intellektueller Entwicklung die Rede.
Im Rahmen dieses Prozesses werden die zentralen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns herausgebildet. Dazu gehört beispielsweise das Differenzieren von Menschen und Sachverhalten. Auch die Impulskontrolle spielt eine wichtige Rolle. Weiterhin zählen folgende Fähigkeiten zu den kognitiven Funktionen:
Ist die kognitive Entwicklung beeinträchtigt, fallen die betroffenen Erwachsenen oftmals durch „unreifes“ Verhalten auf.
Die kognitiven Fähigkeiten umfassen ein weites Spektrum. Jedes Kind entwickelt sie Schritt für Schritt, um sich in einem selbstständigen Alltagsleben immer besser zurechtzufinden. Sehen wir uns nachfolgend einige Beispiele an:
Innerhalb der Familie gibt es Streit. Ein kognitiv weit entwickeltes Kind ist in der Lage, nach Lösungen zu suchen. Gehen wir davon aus, das Thema der Auseinandersetzung ist der familiäre Essensplan gewesen, da das Kind künftig vegetarisch essen möchte. Es bietet an, die entsprechenden Lebensmittel einzukaufen und so auszuwählen, dass es bei der Zubereitung keinen Mehraufwand gibt.
Das Kind ist der Ansicht, in der Schule ungerecht benotet worden zu sein. Es sucht das Gespräch mit seinem Lehrer und trägt seine Argumente sachlich vor. Im Idealfall kann es sogar belegen, warum eine bessere Note angemessen wäre (z. B. lediglich ein halber Punkt Differenz zur nächstbesseren Note, hervorragende mündliche Leistung, Ermessensspielraum etc.).
Das Kind möchte über das Wochenende mit seinen Eltern verreisen, allerdings hat es jede Menge Hausaufgaben zu bewältigen. Zusätzlich wird am Montag noch ein wichtiger Test geschrieben. Es muss also sein zu bewältigendes Arbeits- und Lernpensum entsprechend organisieren, sodass es trotz Ausflug alles schafft. Hierzu ist kluges Planen erforderlich.
Jean Piaget war ein renommierter Psychologieprofessor mit einer beeindruckenden Vita. Sein Interesse für Naturwissenschaften und Psychologie entdeckt er bereits im frühen Kindesalter. Als Professor ist er an zahlreichen namhaften Universitäten tätig. Bis zu seinem Tode im Jahr 1980 leitete er das von ihm gegründete „Centre International d'Epistémologie Génétique“.
Um die Theorie der kognitiven Entwicklung nach Jean Piaget zu verstehen, ist es sinnvoll, sich vorab mit den wichtigsten Grundbegriffen vertraut zu machen:
Unter Adaption versteht man die Fähigkeit der Anpassung eines Kindes an seine aktuelle Umwelt entsprechend seiner Entwicklungsstufe. Demzufolge kommt die Adaption im Laufe der kindlichen Entwicklung häufiger vor. Besonders ausgeprägt sind diese Phasen im Kleinkindalter sowie in der Pubertät.
Die Assimilation bezeichnet die aktive Veränderung der Umwelt durch das Kind.
Die Akkomodation beschreibt die modifizierte Anpassung des Kindes an seine Umwelt.
Äquilibration ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit zur Selbstregulation. Sie treibt alle kindlichen Entwicklungsprozesse voran. Mithilfe der Äquilibration erlernt das Kind, sich innerlich zu koordinieren und die Strukturen seines Alltags differenziert zu betrachten.
Nachdem du nun mit den wichtigsten Fachbegriffen vertraut bist, wollen wir sie miteinander in Verbindung bringen: Alle genannten Entwicklungsschritte bauen nämlich aufeinander auf.
Die Fähigkeit zur Anpassung (Adaption) an die Umwelt bildet die Grundlage der kognitiven Entwicklung. Dieser Schritt lässt sich in zwei Prozesse unterteilen: Im ersten Schritt werden neue Informationen in bereits bekannte Schemata eingefügt (Assimilation).
Beispiel: Ein Kind liebt Stofftiere. Nun bekommt es ein Haustier geschenkt und behandelt es ebenso liebevoll und fürsorglich.
Manchmal lassen sich neue Informationen jedoch nicht in bekannte Schemata einordnen. In diesem Fall muss das Kind ein neues Schema erlernen. Man spricht hierbei von Akkomodation.
Dieses Wechselspiel wiederholt sich im Laufe der kindlichen Entwicklung in regelmäßigen Intervallen. Je nach Entwicklungsphase, in der sich das Kind derzeit befindet, bilden sensorische, operatorische oder begriffliche Schemata die Basis dieses Lernprozesses. Vereinfacht ausgedrückt: Assimilation und Akkomodation bilden die Basis der Adaption.
Im Rahmen der Begriffserklärung sind wir bereits kurz auf die Bedeutung der Äquilibration eingegangen. Nun wollen wir diesen wichtigen Baustein der kindlichen Entwicklung noch einmal vertiefen:
Wie bereits erwähnt, ist die kognitive Entwicklung eines Kindes als ein Wechselspiel zwischen Gleichgewichts- und Ungleichgewichts-Zuständen zu betrachten. Indem das Kind durch Erfahrungen lernt, das Gleichgewicht wieder herzustellen, erreicht es die nächsthöhere kognitive Entwicklungsstufe. Dies wird als Äquilibrations-Prinzip bezeichnet.
Die kognitive Entwicklung umfasst nach Jean Piaget folgende vier Stadien:
Schauen wir uns die vier Stadien nachfolgend im Detail an:
Im sensomotorischen Stadium, das sich vom Säuglings- bis ins Kleinkindalter erstreckt, erforscht das Kind seine Umwelt durch Wahrnehmung und Bewegung. Das sensomotorische Stadium umfasst sechs Stufen:
Interessant zu wissen: Auch nach dem zweiten Lebensjahr ist die sensomotorische Entwicklung nicht gänzlich abgeschlossen. Allerdings ist sie dann für die geistige Entwicklung nicht mehr ganz so entscheidend.
Das präoperative Stadium ist geprägt vom Umgang mit mentalen Repräsentationen in Form von Worten, Bildern und Gesten. Die Kinder lernen allmählich, in Zeichen und Symbolen zu denken. Dennoch wird deutlich, dass die kognitive Entwicklung sich im wahrsten Sinne des Wortes noch in ihren Kinderschuhen befindet. Dies wird durch folgende typische Verhaltensweisen deutlich:
Im Bereich des Generalisierens spielen folgende Fachbegriffe eine Rolle: Animismus, Artifizialismus und Finalismus. Animismus bezeichnet die Ausstattung von leblosen Dingen mit Leben: „Die böse Dunkelheit macht mir Angst.“ Als Artifizialismus bezeichnet man sämtliche kindliche Erklärungsmodelle: „Die Wolken sind weiß, weil Schnee aus ihnen fällt.“
Finalismus bezeichnet ebenfalls ein kindliches Erklärungsmodell. Hierbei erklärt sich das Kind die Eigenschaften der Natur auf eine Weise, die seiner Lebensrealität entsprechen: „Die Sonne scheint, damit die Menschen nicht frieren müssen.“
Im konkret-operativen Stadium verändert sich die Vorstellungswelt des Kindes. Die kindliche Fantasiewelt wird immer mehr von der Beschäftigung mit realen Geschehnissen abgelöst. Das Stadium zeichnet sich durch folgende Verhaltensweisen aus:
Weiterhin erlernt das Kind in dieser Entwicklungsstufe wichtige soziale Fähigkeiten:
Die kognitive Entwicklung erreicht im formal-operativen Stadium ihren Feinschliff. Die geistige Reife eines Erwachsenen rückt immer weiter in greifbare Nähe. Jetzt lernen die Kinder und Jugendlichen, komplexe Sachverhalte zu betrachten und zu beurteilen.
Hierbei verlassen sie sich nicht nur auf offensichtliche Fakten, sondern stellen eigene Vermutungen zu möglichen Hintergrundinformationen an. Psychologen sprechen von der Ausprägung kombinatorischer Strukturen. Darüber hinaus ist es den Kindern möglich, logische Schlüsse zu ziehen, auch wenn sie zum jeweiligen Sachverhalt keinerlei Vorkenntnisse besitzen.
Lew Semjonowitsch Wygotski war einer der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts. Seine Theorie bezüglich der kognitiven Entwicklung unterscheidet sich in elementaren Punkten wesentlich von den Ansichten Jean Piagets.
Laut Lew Wygotski spielen das soziale Umfeld sowie die Sprache die wichtigste Rolle für die kognitive Entwicklung eines Kindes. Der Unterschied zur Theorie von Jean Piaget besteht darin, dass Wygotski das Stufenmodell ablehnt. Er vertritt die Ansicht, dass die kognitive Entwicklung sich ausschließlich durch soziale Interaktionen entwickelt.
Weiterhin ist Wygotski der Überzeugung, dass jeder Mensch mit vier elementaren geistigen Funktionen geboren wird:
Das soziale Umfeld ermöglicht es dem Kind, diese Fähigkeiten einzusetzen und kontinuierlich weiterzuentwickeln. Dieser Prozess verläuft in der sogenannten „Zone der proximalen Entwicklung“. Letzteres bedeutet, dass die Potenziale des Kindes von einem Erwachsenen gefördert werden. In der Theorie von Wygotski ist von „Sachkundigen Anderen“ die Rede.
Jedes Kind verfügt demzufolge über dieselben Voraussetzungen, um ein erfolgreicher und unabhängiger Erwachsener zu werden. Ob dies gelingt, hängt vom Umfeld sowie von der individuellen Förderung ab.
Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Theorien von Jean Piaget und Lew Wygotski sind in folgender wissenschaftlicher Ausarbeitung zusammengefasst.
Selbst wenn man annimmt, dass die kognitive Entwicklung in Stadien verläuft, so lässt sie sich dennoch durch gezielte Förderung unterstützen. Es ist also sinnvoll, die Theorien von Lew Wygotski und Jean Piaget miteinander zu kombinieren. Als Elternteil solltest du dir die Frage stellen: Welche Förderung benötigt mein Kind in welchem Stadium?
Durch genaues Beobachten kannst du leicht herausfinden, welche Entwicklungsschritte dein Kind gerade vollzieht. Begleite es liebevoll und nimm dir die Zeit, alle kindlichen Fragen zu beantworten. Die Interaktion mit dem Umfeld spielt, wie bereits erwähnt, eine zentrale Rolle.