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Das Erikson Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung

Lesezeit von 10 Minuten
Das Erikson Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung

Wir alle machen im Laufe unseres Lebens verschiedene Phasen durch. Wir lernen dazu, entwickeln uns weiter und sammeln unzählige Erfahrungen, die unsere Persönlichkeit formen. Wie heißt es so schön: „Man lernt nie aus.“

Dieser Ansicht war auch der Psychoanalytiker Erik H. Erikson. Er stellte sich die Frage, welche Stufen es denn genau sind, die wir durchlaufen, bis sich unser Charakter vollständig ausgebildet hat. Heraus kam ein Modell, das Erikson 1950 mit der Öffentlichkeit teilte.

Damals nannte er es noch „Die acht Phasen des Menschen“, aber heute kennen wir es als das „Psychosoziale Stufenmodell nach Erikson“ oder schlicht und einfach als das „Erikson Stufenmodell“. Was genau es damit auf sich hat und welche Stufen es sind, die wir alle im Laufe unseres Lebens durchlaufen, liest du hier.

Was ist das Erikson Stufenmodell?

Im Grunde beschreibt das Erikson Stufenmodell die Entwicklung der menschlichen Identität. Ausgangspunkt sind die Wünsche und Bedürfnisse, die du schon in deiner Kindheit hegst. Diese entwickeln sich aber permanent weiter, denn die Anforderungen, denen du in den Augen deiner sozialen Umwelt gerecht werden sollst, verändern sich, je älter du wirst.

Demzufolge veränderst auch du dich, um genau diese Anforderungen erfüllen zu können. In Eriksons Augen ist also die Beziehung zur sozialen Umwelt und die Interaktion damit der springende Punkt. Natürlich kommt es dabei auch zu dem einen oder anderen Konflikt oder sogar zu einer Krise.

Schließlich sind die Anforderungen, denen du in den einzelnen Phasen deines Lebens gerecht werden sollst, und die Wünsche und Bedürfnisse, die du hegst, zwei unterschiedliche paar Schuhe. Manchmal widersprechen sie sich gegenseitig und dann ist es deine Aufgabe, eine Brücke zu bauen und den Konflikt zu überwinden. Genau diese Situationen sorgen dafür, dass du dich charakterlich weiterentwickelst.

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Konflikte prägen unser Leben

Jedes Stadium nach Eriksons Stufenmodell ist von einem solchen Konflikt geprägt und du wirst nacheinander mit ihnen konfrontiert. Dass du diese bewältigst, ist zwar keine Voraussetzung dafür, auf die nächste Stufe zu gelangen, aber natürlich hilfreich auf deinem weiteren Entwicklungsweg. Jede überwundene Phase wird Teil des Fundaments, um all die Stufen zu meistern, die dir noch bevorstehen. Je besser du dich bei deren Bewältigung also geschlagen und je mehr Erfahrungen du dabei gesammelt hast, desto leichter wirst du auch die kommenden Krisen meistern.

Von dem Gedanken, jeden dieser Konflikte vollständig auflösen zu können, solltest du dich aber verabschieden, denn das wird nicht passieren. Sie bleiben dein Leben lang aktuell und werden dich immer wieder beschäftigen. Sie komplett aus der Welt zu schaffen ist auch gar nicht das Ziel. Es geht vielmehr darum, sich in einer bestimmten Lebensphase besonders intensiv mit gewissen Themen auseinanderzusetzen und daran zu wachsen.

Wer war Erik H. Erikson?

Bevor wir uns mit den einzelnen Etappen des Erikson Stufenmodells auseinandersetzen, widmen wir uns erst einmal dem Psychoanalytiker selbst. Was für ein Mensch war er und wie kam er überhaupt zu diesen Erkenntnissen? 

Erik H. Erikson war ein kreativer Kopf, der der Welt offen gegenüberstand. Er hatte eine ganz eigene Auffassung von Psychoanalyse, denn er war immer auf der Suche nach Verbindungen zwischen seiner Arbeit und der von Pädagogen, Kulturhistorikern und sogar Autoren.

Er selbst sagte einmal, dass er den Weg zur Psychologie über die Kunst gefunden habe. So erklärte er zum Beispiel, warum seine Veröffentlichungen oft etwas „Malerisches“ an sich hätten, wo sich einige Leser vielleicht etwas mehr wissenschaftliche Fakten gewünscht hätten.

Erikson hatte selbst sieben Jahre lang kein festes Ziel vor Augen. Er hat immer wieder künstlerische Ausbildungen begonnen, sie aber nie abgeschlossen. In dieser Zeit ordneteer seinen geistigen Zustand selbst irgendwo zwischen Neurose und Psychose eing.

Mit der Ich-Psychologie kam er erst im Alter von 25 Jahren in Kontakt und eröffnete später sogar eine eigene Kinder-analytische Praxis. Erikson nannte sich selbst einen Schüler Sigmund Freuds und baute auf dessen Arbeit auf. So wurde aus Freuds Darlegung über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine Beschreibung all der Stationen, die der Mensch bis zu seinem Tod durchmacht. 

Erikson verband dann das „Ich“ mit den Auswirkungen, die die Umwelt auf die eigene Persönlichkeit hat und ging damit noch einen Schritt weiter als Freud. Heraus kam das psychosoziale Erikson Stufenmodell.

Das haben die einzelnen Stufen zu bedeuten

Nun haben wir aber genug um den heißen Brei herumgeredet. Es wird Zeit, einen genaueren Blick in die einzelnen Stufen und die Konflikte, die sie für uns bereithalten, zu werfen. Lass uns gemeinsam eine Reise durch die acht Stadien antreten und mehr über das Thema Persönlichkeitsentwicklung erfahren.

Stadium 1: Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr)

Dein Weg beginnt ganz ohne Erfahrungen oder besonderer Fähigkeiten. Im ersten Stadium bist du auf das sogenannte Ur-Vertrauen angewiesen. Aber was bedeutet das überhaupt?

  • Du vertraust darauf, dass sich deine Bezugspersonen um dich kümmern.
  • Am stärksten ist deine Bindung erst einmal zu deiner Mutter, schließlich hat sie dich neun Monate lang beschützt und ernährt.
  • Du verlässt dich darauf, dass sie das auch weiterhin tut und für dein Wohl sorgt.

Ist das aber nicht der Fall, verwandelt sich das Ur-Vertrauen in ein Ur-Misstrauen, also das genaue Gegenteil. Kinder brauchen Nähe und Geborgenheit. Wird dir das verwehrt, entwickelst du Ängste. Du fühlst dich hilflos, weil du fürchtest, dass deine überlebenswichtigen Bedürfnisse nicht erfüllt werden und du nichts dagegen tun kannst. Dieses Gefühl kann sich verinnerlichen und das Ur-Misstrauen wird zu deinem stetigen Begleiter. Es äußert sich zum Beispiel in starker emotionaler Abhängigkeit, dem Gefühl von innerer Leere oder auch gierigem Verhalten.

Stadium 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr)

Im zweiten Stadium des Erikson Stufenmodells beginnst du endlich, Autonomie zu entwickeln. Damit das funktioniert, brauchst du Bezugspersonen, denen du voll und ganz vertraust – in den meisten Fällen deine Eltern –, und dass du auch Vertrauen in dich selbst hast. Du beginnst in dieser Phase, deine Identität zu entwickeln.

Wichtig ist dabei, dass du das Gefühl hast, Dinge ausprobieren und auch einmal nach deinem eigenen Willen handeln zu dürfen, ohne dass dein Ur-Vertrauen verloren geht. Und genau an dieser Stelle verbirgt sich auch der Konflikt, mit dem du dich auf dieser zweiten Stufe beschäftigst:

  • Wirst du in deiner Entdeckungsphase stark eingeschränkt, beginnst du zu glauben, dass deine Wünsche falsch und einfach inakzeptabel sind.
  • Zweifel kommen auf und du schämst dich.
  • Du entwickelst unter Umständen zwanghafte Charakterzüge und wirst sehr streng, perfektionistisch, selbstkritisch und zweifelst häufig an dir selbst.

Stadium 3: Initiative vs. Schuldgefühl (4. bis 5. Lebensjahr)

Hast du schon einmal etwas vom Ödipuskomplex gehört? Denn genau vor diesem stehst du in Stadium Nummer drei. Gern frischen wir dein Wissen kurz etwas auf. Ödipus entstammt der griechischen Mythologie. Genauer gesagt war er der Sohn des Königs von Theben. Kurz zusammengefasst tötete er seinen Vater, vertrieb später die Sphinx aus Theben und durfte zur Belohnung eine Frau namens Iokaste heiraten.

Was beide aber nicht wussten: Iokaste war Ödipus‘ Mutter. Sigmund Freud leitete daraus den Ödipuskomplex ab, auf den sich Eriksen hier bezieht. Im Grunde bedeutet er nichts anderes, als dass Söhne mit dem Vater rivalisieren und verstärkt die Nähe der Mutter suchen. Bei Töchtern ist das genau andersherum. Das ist Teil der geschlechtsspezifischen Identitätsfindung und stellt dich vor die folgenden Aufgaben:

  • Du lockerst die besonders enge Bindung zu deinen Eltern langsam und erweiterst den Kreis deiner Bezugspersonen durch andere Familienmitglieder.
  • Du realisierst, dass jeder eine soziale Rolle innehat und du fügst dich in deine eigene ein.
  • Du möchtest dich weiterentwickeln und den Grundstein für deine spätere Selbstständigkeit legen.

Stadium 4: Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)

Jetzt geht das Lernen richtig los und zwar folgendermaßen:

  • Deine Neugier ist größer denn je und du möchtest ganz vorn mit dabei sein.
  • Du willst überall zuschauen und gezeigt bekommen, wie du etwas Nützliches tun kannst.
  • Du möchtest jetzt nicht mehr nur im Spiel so tun, als würdest du es den Erwachsenen gleichtun, sondern wirklich am Geschehen teilnehmen.

Genau das bezeichnet Erikson als Werksinn. Wichtig ist hier, dass du oder auch deine Eltern dich hierbei nicht selbst überschätzen und unrealistische Anforderungen stellen. Dann wäre das Scheitern vorprogrammiert. In dir könnte sich dann das Gefühl verfestigen, nie gut genug zu sein und nur Anerkennung zu genießen, wenn du mit herausragenden Leistungen glänzen konntest.

Unterschätzen ist allerdings auch der falsche Ansatz, denn daraus können sich später ein Gefühl von Minderwertigkeit und auch Versagensängste entwickeln. In dieser Phase liegt die Herausforderung darin, einen Mittelweg zu finden und realistische Anforderungen zu stellen.

Stadium 5: Identität vs. Identitätsdiffusion (Jugendalter)

Die Frage nach der eigenen Identität kommt immer und immer wieder auf, beschäftigt dich aber im Jugendalter besonders. Du befindest dich auf der Schwelle zum Erwachsensein und glaubst, du müsstest bis dahin herausgefunden haben, wer du bist und was du vom Leben erwartest. Aber das ist leichter gesagt als getan. Das erwartet dich in diesem Stadium:

  • Du setzt alles daran, das ganze Wissen, das du bis dato gesammelt hast, zusammenzufügen und zu analysieren.
  • Du erhoffst dir dadurch Antworten auf all deine Fragen zu finden, ein Selbstbild zu formen und deinen Platz in der Gesellschaft zu finden.
  • Dein Freundeskreis wird zu deiner zweiten Familie und trägt zur Festigung deiner Persönlichkeit bei.

Du beschäftigst dich in dieser Phase vor allem damit, was andere von dir denken und prüfst, ob deren Wahrnehmung von dir mit deiner eigenen übereinstimmt. Die Antwort lautet: „Ja“? Dann bist du deiner Identitätsfindung ein großes Stück näher gekommen.

Stadium 6: Intimität und Solidarität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter)

Ist die eigene Identität gefestigt, ist die Grundlage für Intimität geschaffen. Nur wer sich selbst kennt, ist sich auch über seine Bedürfnisse im Klaren und weiß, was er sich von einer Partnerschaft erhofft. Aber in immer schnelllebiger werdenden Zeiten eine beständige Beziehung zu führen, ist nicht immer leicht. Karriere und Mobilität haben einen höheren Stellenwert als je zuvor und Partnerschaften aber auch Freundschaften stehen schnell hinten an.

Es entsteht eine Exklusivität, wie Erikson sie nennt. Im Grunde meint er damit nichts anderes als Isolation. Die Aufgabe, die du auf dieser Stufe zu bewältigen hast, ist, diesen Widerspruch zu akzeptieren und in den Hintergrund zu rücken. Erst dann bist du bereit, dich vollständig zu öffnen und eine ernsthafte und langfristige Beziehung einzugehen. Die Knackpunkte in diesem Stadium sind die folgenden:

  • Dein Partner oder deine Partnerin und deine Freunde stehen dir am nächsten, also isoliere dich nicht von ihnen.
  • Finde dich selbst in deinem/r Partner/in und achte auf ein ausgeglichenes Geben und Nehmen.
  • Kooperationen mit Nahestehenden und Wettkämpfe mit Rivalen finden statt.

Stadium 7: Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter)

Wenn aus der Liebe Kinder hervorgehen, bist du auf der siebten Stufe angekommen. Du bist jetzt verantwortlich für deinen Nachwuchs.

  • Du schenkst ihm Geborgenheit und Sicherheit.
  • Deine Kinder durchlaufen nun all die Phasen, die du schon hinter dir hast und benötigen deine Unterstützung.
  • Dazu gehört auch, den Kleinen all das beizubringen, was sie in ihrem späteren Leben brauchen werden.

Erikson spricht hier von den Wissenschaften, den Künsten und auch von sozialem Engagement. Dieses „Geben“ fasst er als Generativität zusammen. Das Wohl anderer steht für dich aktuell an erster Stelle.

Im Gegensatz dazu stehen die Stagnation und die Selbstabsorption. Du erfährst Ablehnung und schiebst andere von dir. Du selbst bist dir am wichtigsten und hast kaum Interesse an zwischenmenschlicher Interaktion. Die Herausforderung, die sich dir im siebten Stadium stellt, ist zu lernen, fürsorglich zu sein und dich um andere zu kümmern, dich aber gleichzeitig nicht selbst zu vergessen.

Stadium 8: Ich-Integrität vs. Verzweiflung (Hohes Erwachsenenalter)

Im achten und letzten Stadium ist es Zeit für einen Rückblick. Du hast schon so viel erlebt und unzählige Herausforderungen gemeistert und all das lässt du jetzt Revue passieren. Du akzeptierst, zu welcher Person du geworden bist und stehst jetzt vor deiner letzten Krise: Das Annehmen des Todes.

Wir alle müssen irgendwann sterben, das ist ganz klar. Aber der Tod ist etwas Unbekanntes. Es gibt keine Erfahrungsberichte, mit denen man sich auseinandersetzen kann und diese Ungewissheit löst Angst aus. Jeder Mensch hat ein großes Bedürfnis nach Sicherheit aber diese ist hier einfach nicht gegeben. Was ist also zu tun?

  • Laufe nicht vor der Furcht davon, sondern setze dich mit dem Thema auseinander.
  • Blicke auf dein Leben zurück und akzeptiere die Dinge, die vielleicht hätten besser laufen können, denn sie haben dich zu dem gemacht, was du heute bist.
  • Ziel ist es, dem Tod ohne Furcht gegenüberzustehen und zufrieden auf das eigene Leben zurückzublicken.

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Geprüft von Dr. med. Stefan Frädrich

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