Projizieren: Wie wir auf andere übertragen – und wie wir damit aufhören

Lesezeit von 7 Minuten
Projizieren: Wie wir auf andere übertragen – und wie wir damit aufhören

Wer sich mit seiner eigenen Gefühlswelt auseinandersetzt, wird früher oder später vielleicht auf das tiefenpsychologische Konzept der Projektion stoßen. Denn oft projizieren wir unsere eigenen Emotionen auf andere Menschen, statt sie bei uns selbst wahrzunehmen oder zuzulassen. In diesem Artikel klären wir, was Projektionen genau sind und wie es dazu kommt, welche Rolle Projektionen in unserem Alltag spielen und wie wir als einzelne Personen damit umgehen können.

Was ist eine Projektion?

Der psychologische Begriff der Projektion kommt ursprünglich aus der Psychoanalyse. Im Rahmen dieser Theorie gehören Projizieren zu den sogenannten Abwehrmechanismen. Diese Mechanismen wenden wir immer dann an, wenn etwas auf irgendeine Art und Weise unangenehm für uns ist – zum Beispiel, weil es uns Angst macht oder uns peinlich ist.

Tauchen nun also Gefühle, Gedanken, Wünsche oder auch Charaktereigenschaften auf, die uns ängstigen, kann es passieren, dass es zu einem Abwehrmechanismus kommt: Weil es so unangenehm für uns wäre, diesen Gedanken oder das Gefühl zuzulassen, projizieren wir es auf jemand anderen. Dies geschieht laut Psychoanalyse unbewusst. Wir bekommen also in der Regel nicht mit, dass diese Übertragung stattfindet.

Projizieren im Alltag

Vielleicht ist dir jetzt immer noch nicht ganz klar, wie Projizieren im Alltag aussehen kann. Ein Beispiel wäre etwa ein sehr strenger Richter, der bei seiner Arbeit durch seine außergewöhnlich harten Urteilssprüche auffällt. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass der Richter selbst straffällig geworden ist.

Die Ursache für die sehr harten Bestrafungen in seinem Gerichtssaal liegt also in dem Richter selbst. Aus Angst und Scham aufgrund seiner eigenen kriminellen Vergangenheit muss er alle Straftaten möglichst weit von sich rücken und besonders hart bestrafen.

Ein anderes Beispiel: Im Büro gibt es eine neue, attraktive Kollegin. Ein Mitarbeiter regt sich nun ständig über einen anderen Kollegen auf, der die Neue dauernd anspricht und mit ihr flirtet. Möglicherweise projiziert er dabei aber seinen eigenen Wunsch nach Kontakt auf den anderen Kollegen – der vielleicht einfach nur freundlich zu der neuen Mitarbeiterin sein möchte. Aus Angst vor Zurückweisung traut er sich vielleicht selber nicht, in Kontakt zu treten, weshalb ihn das Verhalten des anderen dann derart triggert.

Hinweise dafür, dass es sich in den oben genannten Fällen um ein Projizieren handelt, können darin liegen, dass die Reaktion relativ heftig ausfällt. Der Kollege aus dem Beispiel würde sich also nicht nur einmal beschweren, sondern schon ordentlich aufregen. Außerdem kommt es in der Theorie beim Projizieren wiederholt zu solchen Situationen. Unser Richter würde also nicht nur einmal ein verhältnismäßig hartes Urteil fällen, sondern immer wieder.

projektion psychologie

Was ist das Problem am Projizieren?

Zunächst einmal ist wichtig zu betonen, dass Projektion ein ganz normaler Prozess ist und an sich keinen Krankheitswert hat. Eigentlich setzen wir Abwehrmechanismen ein, um uns zu schützen vor allem, was uns und unser Selbstbild bedroht. Sie haben also durchaus einen sinnvollen Zweck. Allerdings kann es in zwischenmenschlichen Beziehungen zu Problemen kommen, wenn wir häufig projizieren, denn wir machen unserem Gegenüber zu etwas, das er gar nicht ist. Und das birgt Konfliktpotential.

Außerdem verhindert das Projizieren unsere eigenen Eigenschaften und Gedanken natürlich, dass wir diese erkennen. Wir sehen uns selbst nicht, wie wir wirklich sind, sondern nehmen nur die Seiten an uns wahr, die von uns selbst und auch der Gesellschaft gewünscht und akzeptiert sind. Um uns selbst anzunehmen, wie wir sind, ist es aber ein wichtiger Schritt, auch unsere ungeliebten Emotionen und Wünsche zuzulassen. So können wir uns selbst besser verstehen und schließlich mit uns (und anderen) milder und freundlicher umgehen.

In welchen Situationen projizierst du?

Eigenen Projektionen auf die Spur zu kommen, ist gar nicht so einfach. Schließlich will ein Teil von dir nicht, dass du merkst, was hinter deiner Reaktion steckt, denn die unangenehmen Gedanken und Gefühle sollen ja abgewehrt werden und damit gerade nicht in dein Bewusstsein gelangen.

Vielleicht fällt dir selber etwas ein, was dich immer total aufregt, obwohl du eigentlich nicht genau weißt, warum. Das können zum Beispiel drängelnde Autofahrer im Straßenverkehr sein – oder Menschen, die im Supermarkt nicht an die Seite gehen, um jemand anderen vorbeizulassen. Überprüfe doch mal, ob du ergründen kannst, warum dich das Verhalten der anderen so mitnimmt. Warum reagierst du auf ähnliche Situationen emotional und recht heftig – und das immer wieder?

Kannst du im nächsten Schritt bei dir selbst eventuell Motive erkennen, die du nicht gerne sehen möchtest? Vielleicht würdest du eigentlich am liebsten selber gerne rücksichtslos Autofahren. Wenn dir diese oder andere zugrundeliegende Muster klar werden, hast du schon ein großes Stück in Richtung Selbsterkenntnis geschafft.

Wir selbst als Opfer von Projektion

Da Projizieren ein so häufiger Prozess ist, kommt es im Alltag natürlich auch zum umgekehrten Fall. Statt unsere Gefühle auf jemand anderen zu übertragen, kann es auch passieren, dass andere Personen Gedanken und Gefühle auf uns projizieren. Vielleicht fallen dir direkt Situationen aus der Vergangenheit, aus deiner Kindheit oder Jugend ein, in denen jemand seine Gefühle auf dich übertragen hat oder dich dafür verantwortlich gemacht hat?

Gerade für Kinder kann so etwas oft problematisch sein, wenn Projizieren mit einem autoritären Erziehungsstil einhergehen. Der Erwachsene stellt sich selbst als übergeordnete Autorität dar, die im Recht ist. Wenn dieser Erwachsene nun seine Gefühle oder Gedanken auf das Kind projiziert und dementsprechend getriggert wird, kommt es eventuell zu emotionalen Reaktionen gegenüber dem Kind. Da der Erwachsene aber der ist, der universal recht hat, muss das Kind die Schuld für die emotionale Reaktion bei sich suchen. Das Kind bekommt also das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, obwohl das in diesem Falle wahrscheinlich gar nicht so ist.

Als Erwachsene können wir zum Glück besser damit umgehen, wenn jemand eigene Inhalte auf uns projiziert. Wenn wir mit einer Reaktion konfrontiert werden, die uns übertrieben oder seltsam erscheint, können wir einen Schritt zurücktreten und überlegen, was wohl der Grund für die heftige Reaktion des anderen sein könnte.

Vielleicht waren wir tatsächlich rücksichtslos, ohne es zu merken und können bei näherem Betrachten doch verstehen, dass wir den anderen verärgert haben. Ist dies nicht der Fall, ist es sehr gut möglich, dass wir es mit einer Projektion zu tun haben.

Weniger Projizieren: Umgang mit unangenehmen Emotionen

Nicht mehr so häufig zu projizieren ist gar nicht so einfach, weil wir ja wie schon beschrieben meist gar nicht bemerken, was wir da machen. Wenn du in nächster Zeit häufiger mal bemerkst, dass du deine Gedanken oder Gefühle gerade auf jemanden projiziert hast, ist also schon ein großer Schritt geschafft.

Um von vorneherein zu verhindern, dass es zu einer Projektion kommt, müssen wir lernen, auch negativ behaftete Gefühle und Gedanken zuzulassen. Nehmen wir unsere Gefühle wahr, wenn sie auftauchen, können wir einen Raum schaffen zwischen dem Reiz und unserer Reaktion: Wir können bewusst entscheiden, wie wir reagieren wollen, statt automatisiert zu projizieren.

Um das zu schaffen, kann es hilfreich sein, die Haltung eines interessierten Beobachters anzunehmen. Versuche doch mal, in einer passenden Situation ein bisschen auf Abstand zu dir selbst zu gehen und deine Gefühle zu beobachten. Das könnte ungefähr so aussehen: „Aha, interessant. Jetzt werde ich irgendwie ganz schön wütend. Wo spüre ich die Wut denn eigentlich überall?“

Vor allem, wenn du gerade in einer stressigen Situation bist, ist das natürlich nicht so einfach und erfordert etwas Übung. Coachings und Meditationen können hilfreich sein, um den Zugang zu deinem interessierten Beobachter leichter zu machen. Auch können diese Methoden hilfreich sein, um alte Glaubenssätze aufzuarbeiten. So kannst du zum Beispiel lernen, die negative Bewertung mancher Gefühle oder Gedanken abzulegen.

7 Tipps, wie du deinen interessierten Beobachter aktivierst

Damit du auch zu einem interessierten Beobachter deiner Gefühle werden kannst, wenn du im Stress bist, kannst du die folgenden sieben Tipps ausprobieren:

  1. Gedanken beobachten: Nimm dir etwas Zeit an einem ruhigen Ort, atme tief durch und schließe die Augen. Welche Gedanken tauchen auf? Versuche, nur zu beobachten und nicht zu bewerten.
  2. Gedanken aufschreiben: Nimm dir einen Zettel und einen Stift und schreibe alle Gedanken nieder, die auftauchen, bis du ganz leer geschrieben bist.
  3. Gedanken lesen: Lies dir das Geschriebene durch. Welche Gefühle lösen sie aus?
  4. Genauere Betrachtung: Suche dir einen deiner Gedanken aus. Welche Bedürfnisse erfüllt dieser Gedanke? Ist er wahr? Wie fühlst du dich bei diesem Gedanken?
  5. Achtsamkeit zu deinen Gefühlen: Wenn dein Gedanke ein Gefühl in dir auslöst, sorgt das für weitere Gedanken in dir, die dann wieder zu Gefühlen führen. Achte auf diesen Kreislauf.
  6. Finde gute Ergänzungen: Versuche, negative Gedanken zu positiven zu machen, beispielsweise „Ich habe bis jetzt xy geglaubt, aber eigentlich …"
  7. Alltagsübungen: Halte immer wieder kurz inne, um mit deinen Gedanken und Gefühlen in Kontakt zu kommen. Irgendwann wird das Beobachten deiner Gefühle ein normaler Bestandteil deines Alltags.

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